Samstag, 21. März 2015

Hospitation am Ørestad Gymnasium

Ørestad Gymnasium

Das Ørestad Gymnasium hat einen europaweit ausgezeichneten Ruf als Reformschule, von der man sehr viel im Bereich eLearning, Raumstrukturen und Teamwork lernen kann. Die Hospitationen bieten einen Einblick in eine Schule, die die klassischen Lernsettings geöffnet hat, indem auf traditionelle Klassenräume verzichtet wird und die 50-Minuten-Einheit obsolet geworden ist. 

Statt Frontalunterricht wird in offenen Lernsettings Teamkompetenz in Gruppenarbeit und Selbstständigkeit forciert. Der Einsatz neuer Technologien ist selbstverständlich, weil die Schule der Idee des papierlosen Klassenzimmers anhängt. Das Ørestad Gymnasium wurde 2002 eröffnet und liegt in einem Stadtentwicklungsgebiet inmitten eines Kopenhagener Stadtteils, der südlich der Innenstadt heranwächst. 80 000 Menschen sollen dort in Zukunft arbeiten und studieren, 20 000 Menschen werden dort wohnen.



Stadtentwicklungsgebiet

Viel Platz!

Die Schule liegt direkt an der Metro



Das Gymnasium ist als Reformschule bekannt und verzichtet gänzlich auf Bücher, Stifte und Papier. Die Verwendung von Laptops als Hauptarbeitsmittel ist eine Selbstverständlichkeit. Den Schüler_innen werden digitale Unterrichtsmaterialien zur Verfügung gestellt. Teilweise werden digitale Schulbücher von den Lehrkräften an der Schule, die zu den Vorreitern im Bereich eLearning zählt, eigenständig entwickelt. Die Schule bietet eine Oberstufenform mit 11 verschiedenen Zweigen an. Ein besonderer Fokus liegt auf Medienbildung, Kommunikation und Kultur. Außerdem werden Schwerpunktsetzungen für Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften angeboten. Kreativität und Innovation sind essentielle Kompetenzen für die Gesellschaft der Zukunft. Schule ist hier als Austausch zwischen Lernenden und Lehrenden gedacht, die sich gegenseitig dazu anregen sollen, kreative und innovative Wege zu gehen.

Hier ein paar Einblicke zum Gebäude:


Blick von der Treppe
Gemütlich!
Inseln
Bei einer Hausführung fällt das Wort “Lernkathedrale” - ein treffender Ausdruck für das architektonische und pädagogische Schulkonzept. Eine breite Treppe verbindet die vier Stockwerke miteinander (Video). Beeindruckend ist die große Offenheit, die das Gebäude vor allem kennzeichnet. Traditionelle Klassenzimmer findet man hier neben offenen Lernräumen. In der Stundenplanung ist die Abwechslung wichtig - es wird darauf geachtet, dass Klassen abwechselnd Klassenzimmer und offene Lernräume zugeteilt werden, damit in der Unterrichtsform variiert werden kann .

Gruppenarbeit - offener Lernraum mit runden Tischen
Klassenzimmer

Das Herzstück der Schule: die Treppe



Stine (in Blau), die Deutsch und Geschichte unterrichtet, kümmert sich in dieser Woche um uns und hat uns einen Stundenplan erstellt, damit wir möglichst vielfältige Einblicke in die Strukturen des Gymnasiums erhalten.


Technische Ausstattung
Interessant ist, dass keine Smartboards (die wie große Ipads funktionieren) verwendet werden, sondern auf Whiteboards (weiße Tafeln, auf denen mit Stift geschrieben wird), Beamer und Laptops gebaut wird. Die Whiteboards laufen meist über die gesamte Breitseite des Unterrichtsraums. Die LehrerInnen benützen Stehpulte, die auch von SchülerInnen einfach während ihrer Präsentationen genutzt werden. Der Beamer wird dann per Kabel mit den Laptops verbunden. Es wird direkt auf das Whiteboard projeziert. Wenn etwas besonders hervorgehoben werden soll, kann es direkt am Whiteboard eingekreist und unterstrichen werden. Das Whiteboard ist also gleichzeitig Schreib- und Projektionsfläche.

Außerdem ist die Schule medial bestens ausgestattet.
Fernsehstudio in der Schule


Im Media+ Zweig lernen die SchülerInnen das Filmen
Es gibt kein zentrales Konferenzzimmer. Die Idee dahinter ist, dass LehrerInnen jederzeit ansprechbar sind. Daher sind die KollegInnen auf verschiedene Räume im Haus verteilt. Das sieht dann so aus:


Einer der Arbeitsräume für LehrerInnen
Gleich neben dem Gymnasium befindet sich noch eine Gesamtschule. Eine Bibliothek verbindet die beiden Schulen. Das Gymnasium hat eine der BibliothekarInnen dort angestellt. So soll Lesen und Forschen einen noch größeren Stellenwert erhalten. Die Bibliothek ist aber gleichzeitig eine öffentliche Bücherei und nicht nur SchülerInnen zugänglich. Das sind die besten Voraussetzungen für eine gelingende Leseförderung!


Bibliothek gleich neben dem Ørestad Gymnasium 


Bücher für alle Altersstufen


Sekretariat

1100 SchülerInnen und 120 LehrerInnen lernen und unterrichten hier. Im Moment gibt es 42 Klassen, davon sind 14 im ersten Jahrgang, 14 im zweiten und 14 im dritten Jahrgang.


E-Books
Bei der Frage nach digitalen Schulbüchern stellt sich auch jene nach den Anschaffungskosten. Die E-Books werden von der Schule zur Verfügung gestellt. Die Schule darf maximal 300 EUR im Jahr für die Gesamtausgaben jedes Schülers/jeder Schülerin verlangen. Auf einer Materialienplattform sind für die SchülerInnen alle ihre E-Books gesammelt. Statt einer Schultasche haben sie also eine Plattform.

Fächer 
Pro Jahr werden 400 neue SchülerInnen aufgenommen, wobei die geografische Nähe des Wohnorts zur Schule das Aufnahmekriterium darstellt. Noten spielen für die Aufnahme keine Rolle. Der Zweck dieses Vorgehens ist es, Eliteschulen zu vermeiden. Es gibt momentan 10 verschiedene Zweige am Ørestad Gymnasium. Das System ist in Modulen aufgebaut, wobei A das niedrigste ist und C das höchste.


Stundenplan
Der Stundenplan ist in Modulen angeordnet. Jede Stunde hat 100 Minuten. Im Gegensatz zum traditionellen österreichischen Stundenplan, der von Anfang September bis Ende Juni gilt, ändert sich der Stundenplan für die Ørestad-SchülerInnen und -LehrerInnen jede Woche. Das macht Projekte planbar und schafft Zeiträume.


Auffällig ist, dass es jede Woche, bzw. jede zweite Woche, geplante Zeiten für LehrerInnen-Meetings gibt, in denen Allfälliges besprochen wird oder im Team Probleme geklärt werden. Während des Meetings gibt es für die SchülerInnen zusätzliche Study Camps, in denen sie Fragen stellen können, zum Beispiel in Mathematik. Die BetreuerInnen sind LehrerInnen, die sich abwechseln.


Jede zweite Woche findet die “Flexible Lesson” statt. Diese kann beispielsweise dazu genutzt werden, SchülerInnen, die erkrankt waren, auf den neuesten Stand zu bringen. Die SchülerInnen können auch ihre Schreibaufträge während der Flexible Lesson erledigen oder an ihren Portfolios arbeiten. Mentoren, die eine ähnliche Funktion wie unsere KVs haben, nutzen sie, um Gespräche mit SchülerInnen zu führen, die die Schule frühzeitig beenden wollen und andere Probleme anzusprechen.


Noten


Während der drei Jahre Oberstufe gibt es 8 Prüfungen für die SchülerInnen. Diese werden zentral erstellt und beurteilt und finden am Ende eines Schuljahres statt. Ein paar Wochen vorher erfahren SchülerInnen und LehrerInnen, welches (nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Fach im jeweiligen Jahr gezogen wurde). Drei Mal im Jahr werden die SchülerInnen beurteilt: vor Weihnachten, Ende Februar und am Schuljahresende im Juni. Das Notensystem ist siebenstufig: 12 ist die beste zu erreichende Note, -3 die schlechteste, wobei auch die Vorstufe 00 schon ein Nichtbestehen anzeigt.



Ein paar Blitzlichter:


Englisch I
Nicolai verwendet eine für die SchülerInnen online sichtbare Stundenplanung, in der sie in einer einfachen Tabelle sehen können, was für die nächste Zeit ansteht und gestellte Hausübungen, sowie Stundeninhalte einsehen können.


Das momentan bearbeitete Thema ist der Erste Weltkrieg. Die SchülerInnen haben eine Miniserie (Birdsong) gesehen und mussten diese zuhause analysieren. In der Stunde tragen sie ihre Ergebnisse und Aufzeichnungen vor.


Für Grammatik verwenden die E-LehrerInnen ein interaktives E-Book namens ENGRAM. Das besonders innovative Element daran: Mit einer einfachen Zusatzsoftware können LehrerInnen bei den Korrekturen auf die jeweiligen Fehler verweisen. Sie fügen zum Beispiel das Kürzel “Adjektiv” im Kommentar ein. Klicken die SchülerInnen dann darauf, werden sie automatisch mit ENGRAM verbunden und können üben, was ihnen im freien Schreiben schwergefallen ist.


Uns fällt das sehr hohe Level bei Englisch auf. LehrerInnen erklären uns, das läge vor allem am Fernsehen. Filme werden nicht Dänisch synchronisiert, sondern Dänisch untertitelt. Damit hören die SchülerInnen viel Englisch und lesen schon in jungen Jahren viel Dänisch, wenn sie den Fernseher anschalten.


Sozialkunde
Das Thema ist Competetiveness zwischen Staaten. Die Stunde wird auf Dänisch gehalten. Das ermöglicht uns, auf Klassenraumanordnung, Gruppenklima und Unterrichtsgestaltung zu achten. Die SchülerInnen haben in Gruppen ihre Themen in der vorigen Stunde behandelt und sollen für den Rest der Klasse ihr Thema vorstellen. Sie erklären und interpretieren dabei großteils Grafiken, die sie auf das Whiteboard projezieren. Am Ende der Präsentationen zeigt der Sozialkundelehrer einen Werbespot von Volvo, in dem Schweden besonders positiv konnotiert ist und Zlatan Ibrahimovic die Hauptrolle spielt. Die SchülerInnen analysieren diesen dann gemeinsam und finden etwa heraus, dass Natur, Funktionalität, erfolgreiche Integration, Langlebigkeit und Patriotismus darin eine Rolle spielen. Während der Lehrer die Meldungen der SchülerInnen in einer Mindmap auf dem Whiteboard zusammenfasst, ist ein Still vom Spot noch immer daneben sichtbar.

English II
Präsentation
Das Thema der Stunde ist Crime. Die SchülerInnen haben eine Kurzgeschichte von Agatha Christie gelesen und erhalten Arbeitsaufträge. In Gruppen sollen sie das Instagram- und Twitter-Profil von Hercule Poirot erstellen (mit Fotos und Tweets), eine kurze Filmszene zur Enthüllung des Mörders drehen, Illustrationen zu den drei wichtigsten Szenen erstellen (auf Papier!) und ein TV-Interview filmen.


In der Präsentation in der zweiten Stunde fällt auf, dass die SchülerInnen nicht nur die Fremdsprache, sondern wie nebenbei auch Präsentationstechnik üben, als sie ihre kreativen Aufgaben vorstellen. Sie korrigieren sich manchmal gegenseitig in ihrer Präsentation (“Don’t say we didn’t do that!”, “You’re in her way, come over here!”). Fast alle Gruppen benützen Macbooks und stecken diese nacheinander an die Beamerkabel an.

Biotechnologie
Biotechnologie
Die SchülerInnen arbeiten in dieser Stunde in einem digitalen CSI-Labor (ja, wie die Fernsehserie). Sie haben Wissen über DNA erworben und müssen im CSI-Labor nun einen fiktiven Mordfall lösen, indem sie dieses Wissen anwenden. Viele SchülerInnen wählen den Biotechnologie-Zweig, um sich auf ein Medizinstudium vorzubereiten.

Fazit
Es braucht ein gemeinsames Ziel, wenn über Reformen nachgedacht wird. Dass die LehrerInnen am Ørestad Gymnasium dieses haben, haben wir beoabachten können. Kreativität und Innovation sind beherrschende Faktoren für einen Unterricht, der uns begeistert hat in seinen vielen Facetten. Lehren und Lernen beschreitet hier aufregende, neue Wege - ein Abenteuer.

Nicht alles ist eitel Sonnenschein, nur weil es innovativ scheint - auch das haben wir durch viele Gespräche erfahren. Hier setzt dann die Fähigkeit einer Schule ein, sich als lernende Organisation zu begreifen. Eines der Beispiele für ein Projekt, das gut klang, aber schiefging, ist die iPad-Klasse.



Eine der von uns besuchten Klassen war ursprünglich als iPad-Klasse geplant. Nach und nach haben die SchülerInnen aber doch selbstständig auf Laptops umgestellt, da sich das iPad für den Unterricht nur bedingt eignet. Für das Lesen eignet es sich sehr gut, da es schwer möglich ist, auf einem iPad fünf Sachen gleichzeitig zu bedienen. Laptops verführen dagegen eher zum Multitasken - oft auf Kosten der Konzentration. Aktives Arbeiten und Produzieren sei allerdings auf iPads schwieriger und lästiger.



Gruppenarbeit und eLearning haben im Unterricht einen großen Stellenwert - das konnten wir in jeder besuchten Stunde sehen. In Kombination zeigt sich das etwa, wenn die Schüler_innen während einer Projektphase in Gruppen arbeiten und die Lehrkraft dabei nicht verbal, sondern über die Google Docs Kommentarfunktion den Fortschritt kommentiert und so Hilfestellungen bietet, ohne in den Denkprozess verbal einzugreifen.

LehrerInnen agieren besonders während der Gruppenarbeiten als Coaches und BeraterInnen. Die Förderung der Selbstständigkeit von Schüler_innen steht ganz klar im Zentrum. Der Schwerpunkt "Lehr- und Lernkultur" aus dem Schulentwicklungsprogramm der Heustadelgasse sieht genau diese Art des lernerInnenzentrierten Denkens vor. Unsere Visionen sind in Kopenhagen schon Wirklichkeit geworden.

Mit einer Vielzahl von bunten Eindrücken und zahlreichen Ideen kehren wir begeistert nach Österreich zurück. Wir haben gesehen, wie anders Schule erfolgreich funktionieren kann. Auf dem Rückflug muss ich an diesen Satz denken. Er fasst für mich die gesammelten Erfahrungen zusammen:



Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann rufe nicht die Menschen zusammen, um Holz zu sammeln, Aufgaben zu verteilen und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem großen, weiten Meer. 
(Antoine de Saint-Exupèry)








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